Verschollen

Woher kommt eigentlich der Begriff „verschollen“? So fragten wir uns neulich beim Mittagessen.  Mmh. Klar, es sagt aus, dass jemand oder etwas mit unbekanntem Ziel verschwunden ist. Und es handelt sich um Partizip Perfekt Passiv.
Es hat nichts mit dem platten Fisch zu tun – aber vielleicht mit gefrorenem Wasser? Dass früher Seeleute auf einer Eisscholle davontrieben auf Nimmerwiedersehen? Nicht wirklich überzeugend.

Und wie lautet überhaupt die Grundform, das dazu passende Verb? Nachdenken brachte uns nicht weiter, es musste das etymologische Wörterbuch befragt werden (wahlweise Google, aber manchmal bin ich etwas altmodisch).

Siehe da: das „starke 2. Partizip des ungebräuchlichen Verbs verschallen (vgl. Schall) […] gilt seit Ende des 18. Jh.s als gerichtl. Ausdruck: verschollen ist, von wem man seit langem nichts mehr gehört hat und wer sich auf wiederholte öffentl. Aufforderung nicht meldet.“ Und dann kam mir auch die alte Gedichtzeile von Fontane in den Sinn:      
„Da stopfte, wenn’s Mittag vom Turme scholl,
Der von Ribbeck sich beide Taschen voll…“

Heute wird das Verb schallen in der unvollendeten Vergangenheitsform statt in der starken Form „scholl“ in der schwachen Form „schallte“ gebeugt: „Musik schallte vom Festplatz herüber.“ Da ist der Bezug zu „verschollen“ kaum noch erkennbar. Aber sollte mal wieder mein Geldbeutel verschwunden sein, werde ich ihn mehrfach öffentlich auffordern, sich zu melden, bevor ich ihn als verschollen bezeichne.

#LebenWieSauerteig

Lesedauer: 2 Minuten

Unter diesem Hashtag hat die lebensbejahende Margaretha Schedler zu einer Blogparade eingeladen. Wir wurden aufgefordert, unsere Assoziationen zu „Das Leben ist wie Sauerteig“ aufzuschreiben.

Wenn ich mir aber das Hashtag #LebenWieSauerteig betrachte, kann es auch anders gelesen werden; und als Wortfrau beschäftige ich mich natürlich besonders gern mit den verschiedenen Bedeutungen von Worten. 🙂
Das Leben oder leben? Substantiv oder Verb, Analogie oder Aufforderung?

Ich entscheide mich für Letzteres, da mir kein pfiffiges Bonmot à la „Das Leben ist wie eine Pralinenschachtel“ zum Sauerteig einfällt.

Aber was bedeutet es denn, zu leben wie ein Sauerteig? Muss ich mir da das Wort Sauerteig nicht auch nochmal genauer anschauen? Der Wortteil sauer als ein Gegenteil von süß bedeutet im übertragenen Sinn ja auch mühevoll, beschwerlich bzw. bei Menschen auch mürrisch oder unzufrieden. Mmh. Das möchte ich eigentlich nicht als Lebensmotto.

Aber: Sauer macht lustig, sagt der Volksmund.* Und in Zeiten vor Konservendosen und Gefriertruhen waren die Menschen heilfroh, dass man mithilfe von saurem Essig Lebensmittel haltbar machen und so den Winter überleben konnte. Ohne Sauerstoff** könnten wir schon im Sommer nicht überleben.
Also ein durchaus ambivalentes Wort, das sowohl negativ als auch positiv assoziiert wird, ja sogar dem Gas, das Grundlage allen Lebens ist, seinen Namen gegeben hat.

Ups, das hatte ich auf den ersten Blick gar nicht so erwartet, obwohl ich süß-sauren Gerichten sehr zugetan bin und durchaus die Akzente von Säure beim Essen zu schätzen weiß.

Nicht von heute auf morgen

Im Sauerteig wiederum sorgen die Hefen dafür, dass sich Säuren bilden und daraus Kleinstlebewesen, die durch ihren Stoffwechsel für die lockere Konsistenz und den würzigen Geschmack des fertigen Brotes verantwortlich sind.
Doch das passiert – und das darf wörtlich genommen werden – nicht von heute auf morgen. Es braucht seine Zeit. Durch Achtsamkeit und Wärme kann die Entwicklung unterstützt werden, durch Vernachlässigung und Kälte verlangsamt sich der Prozess oder kommt gar ganz zum Erliegen. Angeblich soll Einfrieren zur Konservierung möglich sein, doch fürchte ich um bleibende Schäden oder zumindest Einbußen bei der Qualität – beim Teig wie im Leben.

Andere Menschen zum Lachen bringen, ihnen beim (Über)Leben helfen, achtsam und wärmend, mit der nötigen Muße und Gelassenheit und hinterher ein wohliges Gefühl der Sättigung hinterlassend – so will ich leben wie ein Sauerteig. Guten Appetit!

*Die Redewendung hieß ursprünglich Sauer macht gelüstig und bezog sich darauf, dass säuerliche Lebensmittel den Appetit anregen. Tatsächlich gelten Säuren im Essen als appetit- und geschmacksfördernd. Zudem wirken sie positiv auf die Verdauung.

**Das chemische Element erhielt seinen Namen aufgrund des sauren Charakters vieler Oxyde vom französischen oxygéne für „Säuremacher“.

Eine Verbeugung vor der Sprache

Lesedauer: 3 Minuten

Wir tun es täglich, ohne dass es uns bewusst ist – wir (ver)beugen uns vor der Sprache. Denn ohne die Beugung (Lat. Deklination) von Substantiven funktioniert die deutsche Sprache nur halb so gut (und sie ist eine der großen Herausforderungen für alle, die Deutsch nicht als Muttersprache erlernen).

Je nachdem, welche Rolle wir einem Wort zuweisen, müssen wir seine Endung ändern (zumindest beim Artikel). Der Mann liebt die Frau ist eben eine andere Aussage als Die Frau liebt den Mann (vom Inhaltlichen mal ganz zu schweigen… ;-).

Im Deutschen gibt es vier Rollen, genannt Fälle, die Substantive einnehmen können. Der Nominativ spielt quasi die Hauptrolle, jede handelnde Person, Subjekt genannt, wird im Nominativ gebildet: „Der Mann liebt.“ (Oder im Plural „Die Männer lieben“.)
Die wichtigsten Nebenrollen haben der Akkusativ und der Dativ inne. Denn jedem Verb im Deutschen wird ein nachfolgendes Objekt (der Handlung) zugewiesen, entweder im Akkusativ oder im Dativ. Wen oder was liebt der Mann? fragt nach dem Akkusativ. Wem gehört die Liebe des Mannes? fragt nach dem Dativ.

Aber nicht nur für jedes Verb gibt es einen festgelegten Folgefall, auch Präpositionen (Verhältniswörter, z.B. an, auf, unter) ist in der Regel festgelegt, welcher Fall zu folgen hat. Nettes Gimmick der deutschen Sprache: Man kann bei vielen Präpositionen am Fall unterscheiden, ob man einen Ort oder eine Richtung ausdrücken will. Die Richtung wird mit Akkusativ gebildet, der Ort mit Dativ. Ich gehe auf die Straße (Richtung), aber Ich gehe auf der Straße spazieren (Ort). Das Publikum sitzt vor dem Vorhang (Ort), die Schauspieler treten vor den Vorhang (Richtung).

Doch zurück zu den Fällen, denn da fehlt doch noch einer? Vor fast 20 Jahren setzte Bastian Sick mit seiner Zwiebelfisch-Kolumne und der daraus folgenden Buchreihe Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod dem zweiten Fall, dem Wes-Fall, ein literarisches Denkmal. Und tatsächlich kommt der Genitiv etwas gespreizt daher. Er verweigert Verben die plumpe Gefolgschaft und auch bei Präpositionen behält er sich eine kleine, aber feine Gesellschaft vor (während, in Folge, wegen, um… Willen). Der Wes-Fall kennzeichnet hauptsächlich Zugehörigkeiten (und wird da umgangssprachlich häufig von „dem seine“ ersetzt). Ein minimaler Satzbau kommt deshalb häufig ohne ihn aus. Hinzukommt, dass Behörden und Institutionen den Genitiv lieben (vor allem in Kombination mit Substantivierungen), was dazu beiträgt, Genitiv-Konstruktionen als monströs und wenig konkret zu empfinden: die Anordnung der Aufhebung des Erlasses… verführt niemanden zum Weiterlesen. Dabei tut man dem armen Genitiv ein wenig Unrecht, denn eigentlich will er doch nur auf prägnante Weise Beziehungen deutlich machen: Der Mann liebt die Herzensgüte der Frau.

Texte sind Kino im Kopf

Lesedauer: <1 Minute

Ich habe es ja schon mal kurz angedeutet: Jedes gelesene Wort erzeugt sofort ein Bild im Kopf. Und das gilt nicht nur für Romane und Gedichte, sondern auch für Sachtexte oder kurze Beschreibungen auf der Internetseite.
Wie das funktioniert, zeige ich hier mal an dem Beispiel einer recht abstrakten Ausgangsinformation, die je nach verwendeten Synonymen oder auch zusätzlichen beschreibenden Adjektiven ganz unterschiedliche Bilder und Stimmungen beim Leser erzeugt.

Die Ausgangsinformation: An einem Waldrand steht ein Gebäude.

Varianten:

  • Am Rand des Tannenwaldes steht ein Haus.
  • Fröhlich leuchten die roten Fensterrahmen des Einfamilienhauses vor dem Hintergrund des sattgrünen Buchenwaldes.
  • Die elegante Villa am Waldrand besitzt 20 Zimmer.
  • Wie ein verwunschenes Hexenhaus duckt sich die Kate unter die Bäume des Waldrands.
  • Die eingefallenen Ruinen der Fabrik locken Tiere und Vögel aus dem nahegelegenen Wald.
  • Vier Fenster hat das Haus nach vorne, mit denen es Besucher freundlich anschaut. Der hintere Teil ist wegen des umgebenden Waldes noch nicht zu erkennen.
  • Die gehobene Immobilie in ruhiger Lage mitten in der Natur wurde im Jahr 1980 erbaut.
  • In der mondlosen Nacht ist die heruntergekommene Baracke vor den dunklen Schatten der Tannen und Fichten kaum zu erkennen.
  • Das ehemalige Heim der Familie ist mittlerweile von den Ausläufern des nahen Waldes fast vollständig umgeben.
  • Ein mondänes Herrenhaus in viktorianischem Baustil erhebt sich vor der Silhouette des nahen Eichenwalds.

Fallen Euch noch weitere Varianten ein?

Die Qual des Autors

Lesedauer: 2 Minuten

Eine meiner Grundüberzeugungen als Journalistin und Lektorin ist, dass sich beim Schreiben und Lesen immer nur einer quälen sollte, und zwar der Schreiber. Der fertige Text muss so klar, dass der Leser ihn ohne großes Nachdenken vollständig erfassen kann (wenn ihn das Thema interessiert). Im Internet gilt sogar die goldene Regel „don’t make me think“ – denn bevor der Seitenbesucher darüber nachdenken muss, wo er jetzt die gesuchte Information auf der Seite wohl finden könnte, ist er meist schon wieder weg.

Deshalb singe ich auch das hohe Lied der korrekten Zeichensetzung. Kommata und andere Satzzeichen helfen nicht nur beim Strukturieren eines Textes, sie machen auch die inhaltliche Erfassung einfacher – wenn sie an der richtigen Stelle sitzen.

Auch von konsequenter Klein- oder Großschreibung rate ich ab. Gerade Vielleser erfassen nicht einzelne Wörter (geschweige denn Buchstaben), sondern oft komplette Sätze. Und der wiedererkennungseffekt bei korrekter groß- und kleinschreibung ist um ein vielfaches höher als bei individueller auslegung der orthografie. Außerdem mag ich nicht in einem Fließtext ANGEBRÜLLT werden.:-o

Ja, manchmal ist es eine Quälerei, bis der Text fertig ist und sich so liest und anfühlt, wie man sich das vorgestellt hat. (Gutes Testmittel: Einmal den Text laut vorlesen, dann findet man Stolperstellen schnell und auch Tippfehler werden nicht so einfach überlesen). Manchmal hilft es auch, mal eine Pause einzulegen und den Text einen Tag beiseite zu legen und sich dann erneut vorzunehmen.

Aber jeder, der schreibt, sollte sich immer wieder bewusstmachen, dass wir alle viel mehr lesen als schreiben. Wir schreiben einmal Olivenöl auf den Einkaufszettel und haben im Supermarkt die Auswahl zwischen zehn verschiedenen Marken.
Von einer Person geschrieben, wird ein Text vielleicht von Dutzenden oder sogar Hunderten Besuchern gelesen. Und wenn sich nur jeder Zehnte dann nicht über fehlende Kommata ärgern muss, ist das doch die Quälerei wert, oder?

Wenn Sprache als Verkleidung genutzt wird

Lesedauer: 3 Minuten

Wer von seinen Lesern verstanden werden will, sollte so konkret wie möglich schreiben. Denn ganz automatisch und unbewusst versucht das Gehirn beim Lesen alle aufgenommenen Wörter in Bilder zu übersetzen. Und je besser und genauer die Bilder sind, die im Lesergehirn erzeugt werden, umso einfacher wird der Inhalt behalten und verstanden.
Fun fact am Rande: Für das Wort „nicht“ gibt es kein Bild – deshalb bleibt im Gehirn bei Aufforderungen oder Anweisungen mit „nicht“ eher positive Aussage hängen als dessen Verneinung. So ist es erfolgversprechender zu rufen: „Steig auf die dicken Zweige!“ statt zu sagen „Steig nicht auf die dünnen Zweige!“.

Dabei scheint der Trend im Zuge von Political Correctness zu immer mehr Abstrahierungen und Verallgemeinerungen zu gehen. An Niederschlag, Erziehungsberechtigte und Studierende haben wir uns im Wetterbericht, Mitteilungen der Schule und Nachrichten gewöhnt. Und trotzdem erzählen wir Freunden eher vom Wolkenbruch, regen uns über unfähige Mit-Eltern auf oder lästern über Studenten, die bis mittags schlafen.

Wunderbar verschleiern kann man Aussagen und Informationen durch Substantivierungen. Sehr beliebt sind sie z.B. als Stichworte in Meetingprotokollen. Doch mangelt es dann dort häufig an der konkreten Aufgabe (und niemand fühlt sich zuständig). Wurde nur notiert „Klärung der Dekoration“, weiß nach zwei Wochen schon niemand mehr, ob das nun das Ergebnis oder das To-do war – und wenn letzteres, wer es eigentlich machen soll (geschweige denn bis wann und mit welchem Budget…). Zugegeben, mit entsprechende Spalten in der Protokollvorlage kann man sich helfen, aber was spricht gegen den einfachen Satz: „Uwe kümmert sich bis zum nächsten Treffen darum, dass das Budget für die Dekoration geklärt ist“?  Das können sich dann sogar alle Teilnehmer ohne Protokoll merken. 😉

Substantivierungen werden aber auch gerne bei Meinungsmache und diffusen Behauptungen benutzt. So wie in der Überschrift des Artikels. Ich muss nicht sagen, wer tatsächlich die Sprache als Verkleidung benutzt (und die aktive Formulierung wenn Sprache sich verkleidet ist sogar falsch, denn wir Menschen benutzen ja die Sprache, nicht sie sich selbst). Ich behaupte das einfach, am besten noch als Passivkonstruktion, was immer eine gewisse Hilflosigkeit und Opferrolle signalisiert, und schon steht die Aussage in der Welt.
Die Steigerung wäre dann die Ergänzung Immer mehr, die suggeriert, dass sich da etwas (Ungutes) entwickelt. Diese Unart kommt leider aus dem Journalismus: Damit ein Thema eine Meldung wert ist, muss ein neuer Aspekt oder eine Veränderung benannt werden – denn wenn es genauso ist wie früher, ist es keine Nachricht wert.

„Iss, was gar ist, trink, was klar ist, sprich, was wahr ist“ soll Martin Luther geraten haben. Da ich hochprozentigen Schnaps überhaupt nicht trinke, würde ich es so umformulieren: „Iss, was gar ist, sprich, was wahr ist, schreib, was klar ist.“

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