Verschollen

Woher kommt eigentlich der Begriff „verschollen“? So fragten wir uns neulich beim Mittagessen.  Mmh. Klar, es sagt aus, dass jemand oder etwas mit unbekanntem Ziel verschwunden ist. Und es handelt sich um Partizip Perfekt Passiv.
Es hat nichts mit dem platten Fisch zu tun – aber vielleicht mit gefrorenem Wasser? Dass früher Seeleute auf einer Eisscholle davontrieben auf Nimmerwiedersehen? Nicht wirklich überzeugend.

Und wie lautet überhaupt die Grundform, das dazu passende Verb? Nachdenken brachte uns nicht weiter, es musste das etymologische Wörterbuch befragt werden (wahlweise Google, aber manchmal bin ich etwas altmodisch).

Siehe da: das „starke 2. Partizip des ungebräuchlichen Verbs verschallen (vgl. Schall) […] gilt seit Ende des 18. Jh.s als gerichtl. Ausdruck: verschollen ist, von wem man seit langem nichts mehr gehört hat und wer sich auf wiederholte öffentl. Aufforderung nicht meldet.“ Und dann kam mir auch die alte Gedichtzeile von Fontane in den Sinn:      
„Da stopfte, wenn’s Mittag vom Turme scholl,
Der von Ribbeck sich beide Taschen voll…“

Heute wird das Verb schallen in der unvollendeten Vergangenheitsform statt in der starken Form „scholl“ in der schwachen Form „schallte“ gebeugt: „Musik schallte vom Festplatz herüber.“ Da ist der Bezug zu „verschollen“ kaum noch erkennbar. Aber sollte mal wieder mein Geldbeutel verschwunden sein, werde ich ihn mehrfach öffentlich auffordern, sich zu melden, bevor ich ihn als verschollen bezeichne.

Aufgeesst!

Lesedauer: 2 Minuten

Ich bin immer wieder fasziniert vom kindlichen Spracherwerb. Mit welcher Leichtigkeit (und völlig ohne intellektuelle Kontrolle) dabei von Kleinkindern grammatikalische und sprachliche Regeln erkannt und ganz intuitiv angewendet werden. Zum Beispiel beim Konjugieren der Verben durch die Zeiten.

Bei regelmäßigen Verben wird im Deutschen in der ersten Person (also ich…) die einfache Vergangenheitsform durch Einfügen eines t gebildet: ich spiele – ich spielte. Das Partizip Perfekt Passiv (wichtig für die beiden anderen Vergangenheitsformen mit haben) wird durch die Vorsilbe ge- und ein -t am Ende gebildet: ich habe/hatte gespielt.

Dieses Muster wird von Zwei- bis Dreijährigen sehr schnell erkannt und konsequent angewendet: „Wir haben auf dem Bett getobt.“ Oder: „Ich habe Timmi einen Keks geschenkt.“ Die Trefferquote ist erstaunlich hoch, wenn man bedenkt, dass gerade die häufigsten und fundamentalen Tätigkeiten eines Kindes unregelmäßig gebildet werden: essen, aß, gegessen – trinken, trank, getrunken – laufen, lief, gelaufen – vorlesen, vorlas, vorgelesen – fahren, fuhr, gefahren – sehen, sah, gesehen.

Sollte Euer Kind deshalb bei seinen ersten Wörtern oder Sätzen mal stolz sagen: „Ich habe alles aufgeesst“, dann lobt es innerlich dafür, dass es die Regel schon erkannt hat und bestätigt liebevoll: „Stimmt, Du hast alles aufgegessen.“

Denn vielleicht wird irgendwann einmal aus diesem starken auch ein schwaches Verb, das nur noch regelmäßig gebeugt wird. So wie es dem Fragen und dem Backen bereits passiert ist, denn die Zeiten sind vorbei, in dem jemand nach einem Rezept frug und anschließend einen Kuchen buk

PS: Und um das auch noch klarzustellen: Niesen ist ein schwaches Verb, das als Partizip ganz regelkonform zu nieste, geniest gebeugt wird. Die Partizipialform genossen gehört zum Infinitiv genießen!

Zurück aus der Sommerpause

Lesedauer: 3 Minuten

Die Wortfrau meldet sich zurück aus der Sommerpause. Und nimmt das direkt zum Anlass, über eine wunderbare Fähigkeit der deutschen Sprache zu schreiben: nämlich beliebige Hauptwörter aneinander zu reihen ohne irgendeine Abhängigkeit oder Beziehung zu benennen, außer aus dem Kontext des letzten Wortteils. Dieser bestimmt das grammatikalische Geschlecht und den Zusammenhang des Kompositums (so der Fachbegriff). Denn es macht einen erheblichen Unterschied, ob ich von einer Weinflasche oder einem Flaschenwein spreche.

Doch nur aufgrund von Lebenserfahrung weiß ich, dass eine Glasflasche nichts über den Inhalt, sondern nur über das Material des Gefäßes aussagt. Eine Wasserflasche hingegen kann aus Glas, Kunststoff, sogar Metall sein. Und bei der Ballonflasche erfahre ich weder etwas über Inhalt noch das Material, sondern habe nur eine bestimmte Form vor Augen.

Zurück zur Sommerpause: üblicherweise ist damit die Pause von irgendetwas während des Sommers gemeint, zum Beispiel Fernsehsendungen, Politikbetrieb, Nutzung des Gehirns vor dem Posten auf Facebook (scnr).
Es könnte aber der erste Wortteil auch den Zweck näher benennen: Bei der Frühstückspause unterbreche ich meine Arbeit, um etwas zu essen. Also habe ich Pause gemacht, um den Sommer zu genießen? Ja, auch.

Bei der Arbeitspause hingegen mache ich Pause von der Arbeit. Aber Pause vom Sommer war es definitiv nicht, es gab reichlich Sonnenschein und warme Tage!

Oder könnte es sein, dass die Pause aus Sommer bestand, also etwas über den Inhalt oder die Beschaffenheit aussagt? So wie Sonnenblumenöl aus Sonnenblumenkernen gepresst wird. Ja, das Wetter der letzten Wochen bestand schon überwiegend aus sommerlichen Zutaten…

Aber was ist dann mit Babyöl? Glücklicherweise wird das nicht aus Babys gemacht.

Der erste Wortteil kann nämlich auch näher bestimmen, für wen etwas bestimmt ist. War also die Pause für den Sommer bestimmt, damit er sich mal vom Wetter erholen kann?

In den allermeisten Fällen werden uns unsere Lebenserfahrung und der Zusammenhang dabei helfen, bei Hundekuchen nicht Vierbeiner als Hauptzutat zu vermuten. Aber der beliebte Sandkuchen hat schon manchen kindlichen Sprachanfänger skeptisch gucken lassen. Manchmal kann es deshalb sinnvoll sein, die Wörter zu trennen, um Zweideutigkeiten zu vermeiden: Öl für das Baby; Flasche aus Glas; Pause, um zu pinkeln.

Die Überschrift dieses Beitrags würde ich dann wie folgt ändern: Zurück aus der Pause von der Arbeit, während der ich den Sommer genossen habe.:-)

Hätte, hätte…

Lesedauer: 1 Minute

2020 wird als Jahr des Konjunktivs in die Geschichte eingehen. Nun, würde es vielleicht, wenn es Covid-19 nicht gegeben hätte. Aber dann wäre es auch kein Jahr der Konjunktive geworden. Womit wir schon mitten beim Thema wären: Spätestens jetzt im Mai denke ich bei jedem Blick in den Kalender: Heute hätten wir… Nächste Woche wären wir…

Und da behauptet doch mein Grammatikbuch: „Im Vergleich mit den indikativischen Formen stellen konjunktivische eher die Ausnahme dar.“ (Gut, der Duden ist aus der Vor-Coronazeit – ich möchte behaupten, es war noch nie so viel Hätte, hätte wie heute.)

Dieser so genannte Konjunktiv II drückt „Irrealitäten und Potenzialitäten“ aus und (ich muss einfach nochmal den Duden zitieren) er „dient als Zeichen dafür, dass der Sprecher/Schreiber seine Aussage nicht als Aussage über Wirkliches, über tatsächlich Existierendes verstanden wissen will, sondern als eine gedankliche Konstruktion…“ Mmh. Bis vor acht Wochen waren Eintrittskarten für ein Fußballspiel der Euro 2020 oder das Festival Rock am Ring doch deutlich mehr als eine gedankliche Konstruktion?! Aber nun sind sie nur noch Fiktion, gebunden an den Konditionalsatz „Wenn der Virus nicht wäre, dann könnten wir …“

Hätte, hätte, Fahrradkette… sagt der Volksmund lapidar, um zu beschreiben, dass das Geschehene nun mal nicht zu ändern ist. Aber wenigstens  habe ich jetzt nochmal nachgeschlagen, dass dieser – im Jahr 2020 doch sehr häufig genutzte – Konjunktiv auch Cuniunctivus irrealis oder Coniunctivus potentialis genannt wird.

Und was ist mit dem Konjunktiv I (ich sei, er möge, du habest)? Er wird besonders oft und regelmäßig in der indirekten Rede gebraucht, zum Beispiel in Zeitungsartikeln oder sonstigen Berichten über vergangene Ereignisse. Und außerdem in mathematischen Fachtexten, in Anweisungen und Anleitungen wie zum Beispiel Kochrezepten: „Man nehme 500 g Mehl…“

Eine Verbeugung vor der Sprache

Lesedauer: 3 Minuten

Wir tun es täglich, ohne dass es uns bewusst ist – wir (ver)beugen uns vor der Sprache. Denn ohne die Beugung (Lat. Deklination) von Substantiven funktioniert die deutsche Sprache nur halb so gut (und sie ist eine der großen Herausforderungen für alle, die Deutsch nicht als Muttersprache erlernen).

Je nachdem, welche Rolle wir einem Wort zuweisen, müssen wir seine Endung ändern (zumindest beim Artikel). Der Mann liebt die Frau ist eben eine andere Aussage als Die Frau liebt den Mann (vom Inhaltlichen mal ganz zu schweigen… ;-).

Im Deutschen gibt es vier Rollen, genannt Fälle, die Substantive einnehmen können. Der Nominativ spielt quasi die Hauptrolle, jede handelnde Person, Subjekt genannt, wird im Nominativ gebildet: „Der Mann liebt.“ (Oder im Plural „Die Männer lieben“.)
Die wichtigsten Nebenrollen haben der Akkusativ und der Dativ inne. Denn jedem Verb im Deutschen wird ein nachfolgendes Objekt (der Handlung) zugewiesen, entweder im Akkusativ oder im Dativ. Wen oder was liebt der Mann? fragt nach dem Akkusativ. Wem gehört die Liebe des Mannes? fragt nach dem Dativ.

Aber nicht nur für jedes Verb gibt es einen festgelegten Folgefall, auch Präpositionen (Verhältniswörter, z.B. an, auf, unter) ist in der Regel festgelegt, welcher Fall zu folgen hat. Nettes Gimmick der deutschen Sprache: Man kann bei vielen Präpositionen am Fall unterscheiden, ob man einen Ort oder eine Richtung ausdrücken will. Die Richtung wird mit Akkusativ gebildet, der Ort mit Dativ. Ich gehe auf die Straße (Richtung), aber Ich gehe auf der Straße spazieren (Ort). Das Publikum sitzt vor dem Vorhang (Ort), die Schauspieler treten vor den Vorhang (Richtung).

Doch zurück zu den Fällen, denn da fehlt doch noch einer? Vor fast 20 Jahren setzte Bastian Sick mit seiner Zwiebelfisch-Kolumne und der daraus folgenden Buchreihe Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod dem zweiten Fall, dem Wes-Fall, ein literarisches Denkmal. Und tatsächlich kommt der Genitiv etwas gespreizt daher. Er verweigert Verben die plumpe Gefolgschaft und auch bei Präpositionen behält er sich eine kleine, aber feine Gesellschaft vor (während, in Folge, wegen, um… Willen). Der Wes-Fall kennzeichnet hauptsächlich Zugehörigkeiten (und wird da umgangssprachlich häufig von „dem seine“ ersetzt). Ein minimaler Satzbau kommt deshalb häufig ohne ihn aus. Hinzukommt, dass Behörden und Institutionen den Genitiv lieben (vor allem in Kombination mit Substantivierungen), was dazu beiträgt, Genitiv-Konstruktionen als monströs und wenig konkret zu empfinden: die Anordnung der Aufhebung des Erlasses… verführt niemanden zum Weiterlesen. Dabei tut man dem armen Genitiv ein wenig Unrecht, denn eigentlich will er doch nur auf prägnante Weise Beziehungen deutlich machen: Der Mann liebt die Herzensgüte der Frau.

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